Anzeichen von Burnout und Erschöpfung nehmen bei den Lehrpersonen zu und die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht abgehängt haben, ist alarmierend. In diesem Sinne ist auch die Schule ein "Härtefall", der Unterstützungsmassnahmen erfordert.
“Hier musst du so schnell rennen wie du kannst, um auf der Stelle zu bleiben. Wenn du irgendwo anders hinmöchtest, musst du mindestens doppelt so schnell rennen», erklärt die Rote Königin in Lewis Carrolls Klassiker «Alice hinter den Spiegeln» der erstaunten und vom Rennen erschöpften Alice, die sich in der absurden und widersinnigen Welt des Wunderlands mit ständig wechselnden Regeln und Anforderungen konfrontiert sieht.
Doppelt so schnell laufen und so flexibel wie möglich sein: Das sind die Anforderungen, die heute an Lehrpersonen gestellt werden, welche sich mit immer neuen Regeln und Herausforderungen konfrontiert sehen, die sich jede Woche oder sogar jeden Tag ändern können.
Deutlich höhere Arbeitsbelastung
Das zeigt die VPOD Umfrage, auf die zwischen Dezember 2020 und Januar 2021 fast 1.200 Lehrkräften in der Deutsch- und Westschweiz geantwortet haben. Wir beschränken uns hier auf die Ergebnisse aus der Deutschschweiz. Die Ergebnisse der Westschweiz, die in vielen Fragen ähnlich ausfallen wie die Deutschschweizer Antworten, finden sich auf unserer Website: https://ssp-vpod.ch/.
Auf den ersten Blick mögen einige Antworten paradox erscheinen. Einerseits scheint alles wie gewohnt weiterzugehen. So sagen z.B. 70 % der Teilnehmenden in der Deutschschweiz, sie könnten seit Beginn des Schuljahres «weitestgehend normal unterrichten" (in der Romandie fanden das sogar 80%) und 81% geben an, dass sie den Lehrplan weitestgehend verfolgen können. Auf der anderen Seite sagen mehr als die Hälfte der Lehrpersonen (56%), dass sie deutlich mehr Aufwand für die Arbeit hatten als sonst, und 80% haben das Gefühl, dass ihre psychische Belastung im Laufe des Jahres 2020 zugenommen hat. - Das entspricht dem Paradox, welches Alice erlebt, die rennen muss, um am Ort zu bleiben. Es überrascht nicht, dass die Mehrheit der Befragten (53%) sagt, dass ihre Arbeitszufriedenheit gesunken ist.
Schülerinnen und Schüler in Not
Auch die Schülerinnen und Schüler tragen in dieser Situation eine grosse Last. So waren 56% der befragten Lehrpersonen der Meinung, dass einige ihrer SuS noch Nachholbedarf aus der Zeit des Lockdowns im letzten Frühjahr haben, weitere 12% wussten es nicht. Und 27% der Deutschschweizer Lehrpersonen meinen, einige der SuS hätten den Anschluss verloren, 14% konnten dazu keine Aussage machen. In der Romandie hatten sogar ganze 57% der Lehrpersonen diesen Eindruck. Diese erschreckende Einschätzung zeigt, dass es dringend Mittel und Unterstützung für Nachholmassnahmen braucht. Allerdings konnten nur 13% der Deutschschweizer Lehrpersonen mitteilen, dass an ihrer Schule zusätzliche Massnahmen ergriffen worden seien, um dem Nachholbedarf der SuS zu begegnen. Von Kantonalen Massnahmen wussten sogar nur 3%. (In der Romandie waren es immerhin 46%, welche von solchen Zusatzmassnahmen an ihrer Schule berichten konnten.)
Erfreulich ist dagegen, dass die Merhheit der Befragten der Meinung ist, dass die Schulleiter unterstützend wirkten (85% "Ja" und "teilweise ja"), und auch die Kommunikation mit den Kolleginnen und Kollegen wurde mehrheitlich als gut funktionierend wahrgenommen (95%).
Weitere interessante Ergebnisse betreffen die Umsetzung der Schutzkonzepte an den Schulen: Die Maskenpflicht wird relativ umfassend umgesetzt, mit den Distanzregeln ist es schwieriger: 45% gaben an, dass die Distanzregeln nicht eingehalten werden könnten. Auch gibt es offenbar in den Schutzkonzepten vieler Schulen keine Vorgaben für die maximale Anzahl Personen in einzelnen Räumen oder die Vorgaben sind nicht bekannt (41% wussten nichts davon). Lehrpersonen berichten, dass klare Stellvertretungsregeln für den Fall einer Erkrankung oder Quarantäne entlastend wären. Aber nur 15% der Befragten sagten, dass es an ihre Schule solche Regelungen gebe.
Vielsagend sind auch die Ergebnisse zur psychischen und körperlichen Belastung, die wir mit den Aussagen aus unserer Mitgliederbefragung von 2019 verglichen haben.
Das überraschende Ergebnis: Die grössten Veränderungen zeigen sich nicht etwa bei den psychischen Belastungen der Arbeit, sondern bei der körperlichen Belastung. Zwar geben klar mehr Lehrpersonen an, dass sie sich gesund fühlen (86% der Antwortenden gegenüber 80% im Jahr 2019), aber zugleich gibt es einen deutlichen Anstieg bei den körperlichen Anforderungen. 50% gaben an, dass sie die Arbeit körperlich stark fordert (gegenüber knapp 35% im Jahr 2019), und insgesamt 40.5% der Befragten fanden, dass die körperliche Belastung im vergangenen Jahr zugenommen habe. Im Jahr 2019 hatten das nur 18.5% der Lehrpersonen gesagt. Über die Gründe für diese Veränderung kann nur spekuliert werden. Sicherlich wird das Unterrichten mit Masken von vielen Lehrpersonen zwar als notwendig, aber doch als anstrengend empfunden. Aus einzelnen Rückmeldungen lässt sich aber auch schliessen, dass viele Lehrerinnen und Lehrer aufgrund der vergangenen Monate einfach erschöpft sind.
Es braucht starke Massnahmen!
Die Umfrage zeigt, was es jetzt und in den nächsten Wochen und Monaten braucht. Zu den wichtigsten Massnahmen gehören jetzt:
- Bildungsrückstände beheben: Die erheblichen Defizite, die durch die Lockdown-Phase im Frühjahr entstanden sind, benötigen jetzt grosse Aufmerksamkeit, insbesondere bei einem erneuten Übergang zum Fernunterricht. Jede (vorübergehende oder generelle) Schliessung einer Schule muss von starken Massnahmen begleitet sein. So wie verschiedene Branchen Hilfen für "Härtefälle" erhalten, braucht es auch an den Schulen Mittel, damit Schülerinnen und Schüler nicht den Anschluss verlieren und wieder auf die Beine kommen.
- Leistungsüberprüfungen und Noten überdenken: Es ist nicht sinnvoll, das laufende Schuljahr mit der sonst vorgesehenen Benotungs- und Testfrequenz durchzuziehen - hier müssen Abstriche gemacht werden. Um so dringender sind jetzt Konzepte, wie Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auf allen Stufen des Ausbildungssystems auch in diesem Jahr ihre vollwertigen Abschlüsse erreichen können.
Die Erziehungsdirektionen müssen in Absprache mit den Lehrpersonen und ihren Gewerkschaften klare Richtlinien dafür vorgeben. Mit ihrem Beschluss vom 3. Februar, dass die Prüfungen in der Sekundarstufe II "soweit möglich" nach den üblichen Regeln durchgeführt werden sollen, geht die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) eindeutig an der Realität vorbei. - Überlastung ernst nehmen: Die Kantone und die Schulen müssen einen Plan zur Bekämpfung von Überlastung und Burnout bei den Lehrpersonen aufstellen. Diese Forderung der VPOD ist nicht neu, aber im Zusammenhang mit der Pandemie noch aktueller. Es ist notwendig, dass die Behörden die beträchtliche Anstrengung der Lehrerinnen und Lehrer nicht nur klar anerkennen, sondern auch konkrete Massnahmen ergreifen, um ihre Belastung zu mindern.
Was, wenn neue Einschränkungen notwendig werden?
Wir haben die Lehrpersonen auch nach ihrer Meinung zu den Massnahmen gefragt, die zur Eindämmung der Pandemie diskutiert oder bereits umgesetzt werden. Die Antworten auf die im Fragebogen gemachten Vorschläge liefern eine Art Prioritätenskala. Die Absage von Exkursionen, Schullagern und außerschulischen Veranstaltungen erhielt in der Deutschschweiz um die 80% Unterstützung, gefolgt von der Ausstattung der Klassenräume mit Luftreinigungsgeräten (75 %). Es folgt die vorübergehende Verlängerung der Ferien mit Selbststudium (72%) und der Halbklassenunterricht (66%). 64 % der Befragten in der Deutschschweiz unterstützten die Ausweitung der Maskenpflicht auf jüngere Schüler (gegenüber 46% in der Romandie. Es ist zu beachten, dass die Antworten gegeben wurden, bevor die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie eine solche Massnahme empfahl). Schliesslich erhält der generelle Wechsel zum Fernunterricht mit Notbetreuung nur 45 % Zustimmung («Ja» oder «eher ja»).
Viele weitere interessante Ergebnisse zur Arbeitsbelastung, der Umsetzung der Schutzvorkehrungen an den Schulen und weiteren Fragen finden sich in den Grafiken hier unten.